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Wo die Angst ist, gehts lang: 6 Fakten zum Mythos Angst



Britta sitzt mit klopfendem Herzen in einem noch leeren Raum. Sie fühlt sich beklommen. Ihre Oberschenkel zittern leicht. Den Drang, den Raum zu verlassen, unterdrückt sie. In 10 Minuten beginnt die Teamsitzung, in der sie ihre Ergebnisse präsentieren wird. Sie nimmt sich vor, ihre Nervosität einfach zu ignorieren. Und den Gedanken zu verdrängen, dass sie den Faden verlieren könnte. Schließlich will ihr doch keiner etwas Böses. Und andere bekommen das auch hin.

 

Die Kollegen sind da. Überraschend erscheint auch die Leiterin der Nachbarabteilung zur Teamsitzung. Das steigert Brittas Nervosität. Die ersten zwei Sätze übersteht sie gut. Dann beginnen auch ihre Hände zu zittern. Und eine Leere tut sich in ihrem Kopf auf. Sie hat den Eindruck, die Kontrolle über ihren Körper zu verlieren. Britta bricht die Präsentation ab.

 

Nach diesem einschneidendem Erlebnis wird Britta klar: Ihre bisherige Strategie “Augen zu und durch” reicht nicht mehr aus. Sie will, sie muss etwas ändern. Die Angst, vor Gruppen zu präsentieren, ist zu mächtig geworden. Ihren Job deswegen zu verändern oder gar aufzugeben, ist keine Option für sie.

 

Britta fängt an, sich mit ihrem Angstgefühl zu beschäftigen. Zuerst will sie verstehen, was bei Angst in ihrem Körper passiert. Sie sammelt 6 Fakten: 


  • Fakt 1: Angst schützt uns.

  • Fakt 2: Wir bekommen zweimal Angst - zuerst körperlich, dann bewusst.

  • Fakt 3: Die körperliche Angst tritt unbewusst auf.

  • Fakt 4: Die bewusste Angst braucht Zeit.

  • Fakt 5: Widerstand vergrößert die Angst.

  • Fakt 6: Unser Verstand kann Angst nicht überwinden, aber regulieren

 

 

Fakt 1: Angst schützt uns. 

Die Funktion der Angst war und ist, uns vor Gefahren für Leben und Gesundheit zu schützen. Sie warnt uns vor existenziellen Bedrohungen, aber auch vor Neuem und Unvertrautem. Damit schützt sie uns vor Schmerz und Verletzungen. Unter unseren Vorfahren haben nur die überlebt, die furchtsam auf existenzielle Gefahren - wie wilde Tiere - reagiert haben. Wir sind Nachkommen der Vorsichtigen. Der bei uns negativ konnotierte Angsthase steht in der chinesischen Mythologie für Langlebigkeit.

 

In unserer zivilisierten Welt lösen externe Bedrohungen, wie Unwetter oder Krieg, Angst auslösen. Auch das Auto, das ungebremst auf uns zukommt, oder die anstehende Führerscheinprüfung. Die Angst dient dazu, unsere Aufmerksamkeit zu steigern. Im Autoverkehr mobilisiert sie unsere Energie. Und erreicht, dass wir auf den Gehsteig zurückspringen. In der Prüfungssituation macht uns Lampenfieber leistungsbereit.

 

Neben diesen realen Gefahren können auch unsere Gedanken Angst bewirken. Erinnerungen an vergangene Erlebnisse, wie z.B. der Angriff des gefährlichen Hundes im vergangenen Jahr. Oder Imaginationen über die Zukunft. Im Fall von Britta ängstigt sie die Vorstellung, sich vor Anderen zu blamieren.

 

Angst hat eine wichtige Signalfunktion und gehört zum Leben dazu. "Wer Angst hat, hat Zukunft" meint Gunther Schmidt, der Begründer der hypnosystemischen Therapie.


 

Fakt 2: Wir bekommen zweimal Angst - zuerst körperlich, dann bewusst.

 

Angst beginnt im Kopf. Der New Yorker Hirnforscher Jospeh LeDoux zeigte bereits in den 80er Jahren, dass es im Gehirn nicht nur einen Weg zur Angst gibt, sondern zwei.

 

Zuallererst ist Angst eine körperliche Reaktion: Wir ducken uns bei einem ohrenbetäubenden Knall. Noch bevor wir wirklich wissen, was das für ein Geräusch ist. Das passiert innerhalb von nur 12 Millisekunden. "Quick & dirty" bezeichnet es LeDoux. Biltzschnell, aber schmutzig, weil dabei auch Fehler passieren können. Gemäß dem aus Evolutionssicht sinnvollen Prinzip: Im Zweifel lieber einmal mehr das Leben sichern als vom Tiger aufgefressen zu werden.

 

Um Fehler zu korrigieren, schaltet sich parallel zur körperlichen Angst unser Verstand ein. Als zweiter, vernunftsmäßger Weg zur Angst. Das Gefühl wird uns bewusst und wir wissen, dass wir Angst haben. Allerdings erst nachdem unser Körper in Alarmbereitschaft ist.


 

Fakt 3: Die körperliche Angst tritt unbewusst auf.

 

Diese erste, körperliche Angstreaktion spielt sich in einem stammesgeschichtlich alten, eher primitiven Hirnareal ab. In der Amygdala, die wegen ihrer Form auch Mandelkern genannt wird. Sie gehört zum limbischen System, unserem Emotionszentrum.

 

Die Amygdala bewertet auf Basis einer groben Skizze, ob etwas gefährlich oder harmlos ist. Dies tut sie anhand von Sinneseindrücken, wie Gesehenes, Gehörtes oder Berührung. Sprache spielt dabei keine Rolle. Kategorisiert sie etwas als gefährlich, springt das körperliche Alarmsystem an: Es wird alle Energie im Körper mobilisiert. Die Stresshormone Adrenalin und Cortisol werden ausgeschüttet. Der Herzschlag beschleunigt sich. Die Atmung auch. Schweiß bricht aus.  Alles körperliche Signale für Angst. Unser Körper ist leistungsbereit.

 

Die Angst bedeutet einerseits einen maximalen Energieschub. Sie ermöglicht uns zu kämpfen, anzugreifen und uns zu verteidigen. Alternativ flüchten wir und laufen mit der Angst im Nacken davon. Bleibt beides aus, erstarrt der Körper. Wir sind gelähmt vor Angst. Das Erstarren zur Salzsäure ist auch eine gute Form der Verteidigung. Viele Raubtiere reagieren auf Bewegung. Dann rettet Totstellen das Überleben.

 

Unsere drei Notfallprogramme „Fight, fly or freeze“ sind so schnell, dass wir dabei nicht denken können - weder logisch noch lösungsorientiert. "Angst macht dumm" sagt dazu der Volksmund.

 

Von dieser ersten Angstemotion aus dem limbischen System bekommen wir außer den körperlichen Symptomen nichts mit. Wir zittern wie Espenlaub oder haben einen Kloß im Hals, noch bevor wir überhaupt wissen, dass wir Angst haben.

 

 

Fakt 4: Die bewusste Angst braucht Zeit.

 

Für die Bewusstwerdung der Emotion benötigt der Mensch weitere Hirnareale. Im Großhirn sitzt unser Verstand, mit dem wir unser Verhalten bewusst kontrollieren können. Es ist der entwicklungsgeschichtlich jüngste Teil unseres Gehirns. Und daher eher schwach.

 

Über das Großhirn dringt die Angst in unser Bewusstsein. Aus einem emotionalen Reiz wird ein bewusstes Gefühl. Wir können sagen „Ich habe Angst.“ Zu diesem Zeitpunkt ist der Körper bereits in Alarmbereitschaft.

 

Das Großhirn nimmt den Angstauslöser genauer unter die Lupe. Es arbeitet nicht nur mit einer Skizze (wie die Amygdala), sondern beschreibt den Angstreiz auf Basis von Sprache sehr detailliert. Auch gemachte Erfahrungen und Unterschiede werden berücksichtigt. Diese genaue Analyse braucht Zeit. Rund eine halbe Minute.

 

Auf Basis der Analyse entscheidet der Verstand, ob die erste, körperliche Angst wirklich begründet oder nur ein falscher Alarm war. Stuft das Großhirn eine Angstsituation als harmlos und die aufwallende Angst als falsch ein, schickt es entwarnende Botenstoffe an das limbische System zurück. Die Angstreaktion stoppt. Es wird weniger Adrenalin produziert. Der Herzschlag und die Atmung verlangsamen sich. Der Körper reguliert zurück auf Entspannung.


 

Fakt 5: Widerstand vergrößert die Angst.

 

Nicht selten machen wir uns über das Zittern und Herzklopfen negative Gedanken, finden es unverständlich, unangemessen oder sogar beschämend. Wir beschimpfen uns wegen des Angstgefühls: „Stell dich nicht so an. Sei keine Memme.“ Das macht uns noch ängstlicher und angespannter. Es kommt zu einer Angsteskalation.  Bis zur Panikattacke: Die Angst wird so groß, dass wir die Kontrolle über sie verlieren.

 

Ein solcher innerer Widerstand gegen Angstgefühle führt zu einem höheren Stresslevel und verstärkt Ängste.


 

Fakt 6: Unser Verstand kann Angst nicht überwinden, aber regulieren.

 

Der Angstprozess in der Amygdala läuft unbewusst ab. Die körperliche Aktivierung entzieht sich unserer willentlichen Steuerung. Wir werden die Angst daher also nie ganz los. Aber wir können uns dem bewussten Angstgefühl zuwenden. Und unser Nervensystem unterstützen, die ausgeschütteten Stresshormone schneller abzubauen. 

 


Britta freut sich: Was für ein intelligenter Prozess, wenn es um Leben und Tod geht.

Aber Sprechen in Gruppen? Das ist doch eine normale Situation im beruflichen Alltag. Warum hat sie be gelernt, dass Präsentieren vor Gruppen Gefahr bedeutet? Mit dieser Frage wird sie sich als nächstes befassen.


 

Quellen:

Schmidt, G. (2021). Wer Angst hat, hat Zukunft [Audio-Podcast]. In sysTelios Podcast. Sendezeit: 04.11.2021, 01:09:53 Minuten, online abrufbar unter:

 

Was passiert bei Angst im Körper? (2022). [Clip], Sendung: Terra X, Autor: Roberto Verdecchia/Julia Zipfel/Jochen Schmidt, 3sat, Sendezeit: 14.03.2022, 01:00 Minute, online abrufbar unter:

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